Der Anteil der Anleihen im Euroraum, die mit einer negativen Rendite gehandelt werden, ist seit dem Höchststand im Jahr 2020 um mehr als ein Drittel gesunken.
Als Zeichen der allgemeinen Neubewertung, die im Gange ist, da die US-Notenbank in Aussicht gestellt hat, demnächst die US-Leitzinsen zu erhöhen, stieg die Rendite deutscher Bundesanleihen (das Paradebeispiel für Sicherheit in der Region), diese Woche zum ersten Mal seit drei Jahren kurz über Null, wie Bloomberg berichtet.
Trotz des jüngsten Rückgangs gibt es im Euro-Raum immer noch rund EUR 1,5 Billionen (USD 1,7 Billionen) an negativ verzinsten Anleihen.
Während Anleihe-Händler darauf hinweisen, dass ein Anstieg in den positiven Bereich helfen könnte, ausländische Investitionen anzulocken, ist es wichtig, in Erinnerung zu rufen, warum die Zinsen in erster Linie so tief abgestürzt sind.
Die Antwort ist naheliegend: verbrauchsdämpfende Maßnahmen, insbesondere in Deutschland.
Die Sparpolitik (fiscal austerity), die auf die Bewältigung der Schuldenlast abzielt, hat - ironischerweise - zu einem weiteren Rückgang der Nachfrage und damit zu einer Verschärfung der stagnierenden Wirtschaft im Euro-Raum geführt.
Das Problem der Einkommensungleichheit ist ein globales Problem. Die globale Einkommensungleichheit und ihre Auswirkungen auf Konsum und Investitionen sind von grundlegender Bedeutung, um zu verstehen, warum das schwache Wirtschaftswachstum bzw. das niedrige Zinsniveau anhalten.
Die Wirtschaft reagiert auf eine erzwungene Erhöhung der Sparquote (bedingt durch fiscal austerity) i.d.R. mit einem Anstieg der produktiven Investitionen oder einem Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Da die Einkommensungleichheit zu einer Abnahme der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führt, halten sich Unternehmen mit Investitionen zurück.
Warum? Weil der Zweck von Investitionen heute darin besteht, den Konsum von morgen zu steigern, ist es wahrscheinlich, dass die gewünschten produktiven Investitionen fallen, wenn man davon ausgeht, dass der Anstieg der Einkommensungleichheit dauerhaft ist.
Denn ein geringerer erwarteter Verbrauch würde die Art der effektiven Nachfrage nach Produkten von Unternehmen verringern, die eine Reinvestition ihrer Kapitalansammlungen in neue Anlagen rechtfertigen würde.
Während die Einkommensungleichheit zu Arbeitslosigkeit (heute vor allen in Form von Unterbeschäftigung) führt, trägt die Fiscal Austerity dazu bei, dass das Zinsniveau sinkt, weil gesamtwirtschaftlich gesehen über Gebühr gespart wird («excess savings»).
Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund der Fall Deutschland:
Indem das Lohnwachstum unter dem Produktivitäts- und BIP-Wachstum gehalten wurde (v.a. im Zeitraum nach der EUR-Einführung), sanken die Lohnstückkosten (unit labor cost) in Deutschland und die deutschen Arbeitnehmer wurden auf den internationalen Märkten "wettbewerbsfähiger".
Dies führte zu einem Anstieg der deutschen Sparquote und verwandelte die deutsche Leistungsbilanz von großen Defiziten in den 1990er Jahren in den größten Überschuss der Welt. (*)
Nach aktuell vorliegenden Daten beläuft sich Deutschlands Leistungsbilanz-Überschuss auf rund 7% des BIP. Und das ist ein klarer Verstoss gegen die Regeln der Europäischen Währungsunion (EWU). (**)
Die wichtigste Ursache für die zunehmende Einkommensungleichheit ist die Stagnation des Reallohnwachstums für die unteren 80% der privaten Haushalte.
Wird das Reallohnwachstum unter dem Wachstum der Arbeitsproduktivität unterdrückt, kommt es zu einem säkularen Rückgang des Anteils der Löhne (und einem Anstieg der Gewinne) am Volkseinkommen.
Die Hauptursache für die Unterdrückung des Lohnwachstums ist die Aufgabe der Vollbeschäftigung als vorrangiges Ziel der Makropolitik zugunsten der Inflationsbekämpfung Ende der 1970er Jahre, wie Servaas Storm in einem lesenswerten Beitrag «Why the Rich Get Richer and Interest Rates Go Down» bei New Economic Thinking bekräftigt.
Höhere Ersparnisse der privaten Haushalte verringern die Konsumnachfrage, was wiederum die Anlageinvestitionen der Unternehmen auf dem Inlandsmarkt bremst.
In der Folge stagniert das Wachstum der Gesamtnachfrage, und der Druck auf die nachfrageseitige Inflation schwindet. Da die Inflation (und die erwartete Inflation) strukturell niedrig ist, senken die Zentralbanken den Zinssatz.
Kurzum: Fiscal Austerity, die für «excessive savings» verantwortlich ist, ist für das niedrige Zinsniveau im Euro-Raum massgebend.
(*) Prof. Michael Pettis erläutert den ganzen Zusammenhang in auch für Laien leicht verständlichen Sprache in seinem lesenswerten Buch «The Great Rebalancing» aus dem Jahr 2013.
(**) Leistungsbilanz und die Schwellenwerte in der EWU: für Überschüsse: 6% des BIP und für Defizite: -4% des BIP.