Allem Anschein nach wollen Zentralbanken mit Zinserhöhungen gegenwärtig eine geldpolitische Normalisierung signalisieren.
Gegen Wachstum nach einer schwerwiegenden Lockdown-Phase der Wirtschaft ist nichts einzuwenden. Schliesslich versuchen die Zentralbanken damit, die Wirtschaft in einen langfristig relativ konstanten Trend zu bringen, wo weder Inflation noch Deflation droht.
Normalisierung bedeutet hierbei, dass die unkonventionelle Geldpolitik, d.h. die mengenmässige Lockerung (QE: quantitative easing), allmählich zurückgefahren wird. Das heisst, dass das QE zu Ende geht und das QT (quantitative tightening) beginnt.
Die Antwort auf die Frage, wann die Zinsen wieder steigen würden, war dem Lehrbuch nach von Anfang an klar: Wenn das Wirtschaftswachstum zurückkehrt.
Und wenn das der Fall ist, werden steigende Einnahmen die Staatskassen füllen und bei höherer Beschäftigung werden die öffentlichen Ausgaben für die automatischen Stabilisatoren zurückfallen. Und so wird sich das Haushaltsdefizit wieder reduzieren.
Allerdings lassen Aussagen, wie die von Andrew Bailey, dem Gouverneur der Bank of England (BoE), dass die Arbeitnehmer keine höheren Löhne verlangen sollten, da dies dazu führen könnte, dass die Preiserhöhungen «tief verwurzelt» werden, aufhorchen.
Bedeutet die Normalisierung nun eine Rückkehr zu «Fiscal Austerity»?
Wird in Europa wieder ein Unterbietungswettbewerb («race to bottom») grossgeschrieben?
Wie Konsumverzerrungen in einem Land zu verzerrten Ersparnissen in einem anderen Land führen können, lässt sich am deutlichsten am Beispiel Europas seit der Einführung des Euro erkennen.
Den makroökonomischen Zusammenhang hat Prof. Michael Pettis in seinem Buch «The Great Rebalancing» vor rund zehn Jahre ausführlich erläutert.
Martin Sandbu fragt auf Twitter:
Warum ermutigt der Gouverneur der BoE zur Zurückhaltung bei den Lohnforderungen, ruft aber nicht zur Zurückhaltung bei den Versuchen der Unternehmen auf, ihre Gewinnspannen zu wahren?
Ist es eine intellektuelle Voreingenommenheit, Ideologie, größere Resignation in Bezug auf die Preis- als auf die Lohngestaltung oder etwas anderes?
Wenn Bailey die Arbeitnehmer im Vereinigten Königreich auffordert, ihre Lohnforderungen zu mäßigen, wird dies wahrscheinlich niemanden in seinem Verhalten beeinflussen.
Was wirklich zählt, sind nicht die Inflationserwartungen, sondern wie Verbraucher und Unternehmen auf diese Inflationserwartungen reagieren.
Das hängt davon ab, wie überzeugt die Menschen von der Inflation sind und welche Verhandlungsmacht sie haben. Die Verbraucher könnten höhere Löhne fordern, wenn sie hohe Inflationserwartungen haben, aber sowohl ihre Überzeugung als auch ihre Verhandlungsmacht müssen hoch sein. Die Zentralbanken sollten sich auf Handlungen und nicht auf Erwartungen konzentrieren, wie Paul Donovan von UBS beschreibt.
Philip Lane, EZB-Chef Volkswirt hat neulich in einem Interview erklärt, worauf zu achten ist, wenn es um das Lohnwachstum geht:
Die goldene Lohn-Regel gibt das Soll-Ziel wie folgt an:
Lohnwachstum = Inflationszielrate der EZB + Arbeitsproduktivität.
Wenn die Inflation im Euroraum bei etwa 2% liegt und ein typischer Anstieg der Arbeitsproduktivität von etwa 1% berücksichtigt wird, dann sollten die Löhne im Euroraum im Durchschnitt um 3% pro Jahr steigen, um mit dem 2%-Ziel vereinbar zu sein.
Zurzeit ist in diesem Bereich keine Lohn-Preis-Spirale zu verzeichnen.
Philip Lane, ECB, in einem Interview, Jan 25, 2022.
Jonathan Ferro von Bloomberg TV hat am Freitag in einem live-Interview Marty Walsh (US Secretary of Labor) damit konfrontiert, was er von Baileys Aussage halte, dass die Arbeitnehmer im Vereinigten Königreich auf Lohnforderungen verzichten sollten.
Arbeitsminister im Kabinett Joe Biden sagte wörtlich (meine freie Übersetzung):
«Jedes Mal, wenn die Löhne der Menschen steigen, ist das eine gute Sache. Im Gastgewerbe sind die Löhne um 13 bis 15 % gestiegen. Und wir haben eine stärkere Beteiligung («labor force participation rate») der Arbeitnehmer in dieser Branche festgestellt. Ich denke, es ist wichtig, den Arbeitnehmern mehr zu zahlen. Es ist wichtig, unsere Arbeitnehmer zu respektieren, und es ist wichtig, unsere Wirtschaft voranzubringen».
Fazit:
Arbeitsplätze machen die Menschen glücklich: Wenn die Löhne nicht steigen, gibt es keinen wirklichen Arbeitskräfte-Mangel. Lohnwachstum und Erwerbsquote hängen tendenziell zusammen.
Wenn ein Unternehmen Schwierigkeiten hat, genügend Arbeitskräfte zu finden, kann es das Problem lösen, indem es einen höheren Preis für diese Arbeitskräfte anbietet, auch bekannt als höhere Löhne.
Kein Lohnwachstum bedeutet keinen Arbeitskräftemangel. Wenn sich die Wirtschaft auf Vollbeschäftigung zubewegt, wird das Lohnwachstum steigen.