Branko Milanovic: Visions of Inequality – From the French Revolution to the End of Cold War, Harvard University Press, October 2023, London, UK.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Wahrnehmung von Ungleichheit sich im Laufe der Zeit ändert. Jede Ungleichheit (bezüglich Einkommen, Rasse, Geschlecht usw.) ist ein historisches Phänomen. Wir können daher nur von spezifischen Merkmalen jeder Ungleichheit sprechen.
Vor diesem Hintergrund bemüht sich Branko Milanovic redlich, die Entwicklung des Denkens über wirtschaftliche Ungleichheit in den letzten zwei Jahrhunderten empirisch nachzuzeichnen.
Es geht um die Ideengeschichte. Ziel ist es, die Ansichten der besprochenen Autoren über die Einkommensverteilung in den Kontext ihrer Zeit einzuordnen.
Der Ansatz des an der City University of New York forschenden Wirtschaftsprofessors hat bestimmte Merkmale, wie zum Beispiel:
seine enge Fokussierung auf die Einkommensverteilung,
der Versuch, die Ideen aus der Perspektive des jeweiligen Denkers darzustellen,
die chronologische Anordnung der behandelten Konzepte,
seine Differenz zu den normativen Ansichten der verschiedenen Denker über Ungleichheit und
die Verwendung eines bestimmten Standards (Erzählung, Theorie und Empirie).
Eine Möglichkeit, über dieses Buch nachzudenken, besteht ferner darin, sich vorzustellen, dass jeder der hier besprochenen sechs Autoren gebeten würde, auf dieselbe Frage zu antworten:
"Was verrät Ihre Arbeit über die Einkommensverteilung? Wie und warum könnte sie sich ändern?"
Der chronologische Ansatz hat den Vorteil, deutlich zu machen, dass Ungleichheit zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sehr unterschiedliche Dinge bedeutete.
Daraus folgt, wie gesagt, dass das, was wir heute als Schlüsselfaktoren für Ungleichheit ansehen, in Zukunft sicherlich anders gesehen werden dürfte.
Wichtig ist zudem, sich zu vergegenwärtigen, dass sich Visionen der im Buch besprochenen Autoren über Ungleichheit unterscheiden und manchmal sogar überschneiden. Adam Smith und Quesnay waren beispielsweise die einzigen beiden Autoren unter den sechs, die sich persönlich getroffen haben.
Interessant sind die Überlegungen, die der Autor anstellt, um das Problem zu erklären, warum Studien zur Einkommensverteilung nach etwa 1960 im Westen verschwunden.
Im Osten war die Finsternis laut Milanovic sogar noch früher eingetreten. Für den Osten konnte aber eine Erklärung in dem Glauben gefunden werden, dass die sozialen Klassen abgeschafft worden waren, und in dem politischen Druck, keine Studien zuzulassen, die diese aufgezwungene Auffassung in Frage stellen könnten.
Was aber den Westen betrifft, hat es wahrscheinlich etwas mit der neoklassischen Ökonomie und dem politischen Klima des Kalten Krieges zu tun: Ökonomen wurden in kapitalistischen und demokratischen Ländern irgendwie davon abgehalten, sich mit dem Thema Ungleichheit wissenschaftlich zu beschäftigen.
Die besondere Art der neoklassischen Ökonomie, die durch politische Erfordernisse gestützt und mit dem Geld von Milliardären finanziert wird, könnte man laut dem Autor als "Ökonomie des Kalten Krieges" bezeichnen.
Ein Begriff, der die wahre Natur und die Ziele des Unternehmens genauer offenbart als die herkömmlichen Bezeichnungen "neoklassische" und "Mainstream-Ökonomie". Der Erfolg war auf den außer-akademischen Druck von Geld und Politik zurückzuführen.
Beiträge reicher Einzelpersonen und Stiftungen zu neoklassischen oder konservativen ökonomischen Denkfabriken sind in den Jahrzehnten nach Reagan sogar noch häufiger geworden, da es immer mehr Milliardäre gab.
Unter anderem hebt Milanovic mit Nachdruck das von Thomas Piketty im Jahr 2014 vorgelegte Buch “Capital in the Twenty-First Century” besonders hervor:
"künftige Ökonomen werden Capital in the Twenty-First Century wahrscheinlich als das einflussreichste Buch seit der Veröffentlichung von Keynes' General Theory im Jahr 1936 ansehen."
Der französische Wirtschaftswissenschaftler entwickelte nämlich eine "politische Theorie der Einkommensverteilung".
Der Kapitalismus erzeugt demnach, wenn er sich selbst überlassen wird, eine immer größere Ungleichheit, weil die Kapitalerträge (r), die vor allem von den Reichen erwirtschaftet werden, das Wachstum des Durchschnittseinkommens (g) ständig übersteigen, eine Tendenz, die der an der Pariser Elitehochschule École des Hautes Études en Sciences Sociales forschende Wirtschaftsprofessor als r>g zusammenfasst.
Der unaufhaltsame Anstieg der Ungleichheit wird nur durch äußere Ereignisse wie Wirtschaftskrisen, Kriege, Zeiten der Hyperinflation und politische Entscheidungen (z. B. Steuererhöhungen) unterbrochen oder umgekehrt.
Der Autor legt Wert darauf, nicht nur die Einkommensbildung, sondern auch die Einkommensverteilung zu betrachten, um auf diese Weise mühsame ideologische Studien zu umgehen, die in der Vergangenheit den Versuch unternahmen, den genauen Klassencharakter sozialistischer Volkswirtschaften zu definieren und zwischen sozialen Klassen (als unerwünscht) und sozialen Schichten (als akzeptabel) zu unterscheiden.
“Während der Kapitalist an der Verteilung des gesellschaftlichen Mehrwerts im Verhältnis zu seinem Kapital teilnimmt, nimmt der Bürokrat im Verhältnis zu seinem Status in der Machthierarchie teil.”
Mit anderen Worten:
Die Zugehörigkeit zu einer staatlichen und parteibürokratischen Hierarchie spielt in sozialistischen Systemen die gleiche Rolle (in Bezug auf das Einkommen) wie der Besitz von Kapital in kapitalistischen Systemen.
Es ist jedoch unvermeidlich, dass Gegenkräfte im Kapitalismus schwächer sind. Denn eine hohe Einkommensungleichheit, d. h. eine größere wirtschaftliche Macht der Reichen, sichert den Politiken, die ungleichheitsfördernd und wirtschaftsfreundlich sind oder die darauf abzielen, Themen der Einkommensverteilung zu verdrängen, größeren Einfluss.
Zum Schluss hebt der Autor hervor, dass die extreme Ungleichheit bei Vermögen (und Einkommen aus Vermögen) eindeutig unvereinbar mit der Vision der neoklassischen Ökonomie von einer nahezu klassenlosen Gesellschaft ist.
Bei der Kritik des Autors geht es aber nicht um eine Vereinfachung der Realität der neoklassischen Modelle, sondern um ihre Verfälschung.
Die Kritik besteht also nicht darin, dass die Annahmen unrealistisch sind, sondern dass die Annahmen dazu dienen, die Realität zu verschleiern. Die neoklassische Ökonomie verbindet nämlich zwei gegensätzliche Laster: vereinfachende Annahmen und übermäßig komplexe mathematische Modelle.
Ein hervorragender Beitrag zum Thema Ungleichheit, umfassend recherchiert und voller Einblicke, eine tiefgründige und klare Analyse mit Eigenschaften eines Standardwerkes.