Queen Elizabeth II hat im November 2008 bei einem Besuch der London School of Economics die auf der Veranstaltung teilnehmenden Wirtschaftsprofessoren gefragt, wie es passieren konnte, dass niemand die Krise (Global Financial Crisis: GFC) vorhergesehen hat.
Es muss sicherlich eine äusserst peinliche Situation gewesen sein. Die Experten gingen im Wesentlichen dazu über, sich in Schweigen zu hüllen.
Das Epizentrum der GFC war jedoch das US-Finanzsystem selbst: Die Krise kam aus dem Inneren der Wirtschaft und nicht von außen.
Gab es nicht doch Anzeichen?
Es gab einige, die davor warnten, dass eine Krise nicht nur wahrscheinlich war, sondern unmittelbar bevorstand. Der niederländische Wirtschaftswissenschaftler Dirk Bezemer zum Beispiel nannte ein Dutzend Indizien.
Der Punkt ist, dass niemand die Krise auf der Grundlage eines neoklassischen Rahmens vorhergesagt hat.
Die vom Mainstream abweichenden Denkschulen, die unter dem Begriff "heterodoxe" Ökonomie zusammengefasst werden, werden von einer bedeutenden Minderheit der akademischen Ökonomen vertreten, die bis zu 10 % des Fachs ausmacht.
In der neoklassischen Makroökonomie werden Banken, private Schulden und Geld praktisch ignoriert. Neoklassische Ökonomen begründen diese Auslassung mit der Behauptung, dass Banken - und ihre Produkte, Schulden und Geld - für die Makroökonomie weitgehend irrelevant seien.
In der neoklassischen Ökonomie ist die Geldschöpfung in erster Linie Sache des Staates, und zwar über das so genannte "fractional reserve banking" oder den "Geldmultiplikator".
Eine Bank, so wird behauptet, nimmt die Einlagen von Sparern entgegen und verleiht dann einen großen Teil dieser Einlagen an Kreditnehmer. Diese Kreditvergabe schafft Geld in einem sich wiederholenden Prozess, an dem mehrere Banken beteiligt sind, nicht nur eine Bank allein.
Doch die BoE erklärte 2014 mit Nachdruck, dass "neoklassische Modelle des Bankwesens", "loanable funds" und "fraktioniertes Mindestreserve-Banking" falsch seien.
Auch die deutsche Bundesbank hat drei Jahre später in die gleiche Kerbe gehauen: Die Kreditvergabe der Banken schafft Einlagen (Geld).
Die Tatsache, dass Banken Geld schaffen, wenn sie Kredite vergeben, hat enorme Auswirkungen auf die Makroökonomie.
In seinem neuen Buch entlarvt Steve Keen die neoklassische Theorie der Wirtschaft und stellt sein eigenes Konzept («A system dynamic model») vor.
Um Geld zu verstehen, muss man das Bankwesen verstehen. Die Banken selbst haben sich aus dem System der doppelten Buchführung entwickelt, um den Überblick über finanzielle Verpflichtungen zu behalten, so Keen.
Bei der doppelten Buchführung werden alle Transaktionen zweimal erfasst, einmal vom source account und einmal vom destination account. Die Konten werden auch als Aktiva, Passiva oder Eigenkapital klassifiziert, wobei die Regel gilt, dass die Aktiva abzüglich der Passiva eines Unternehmens dessen Eigenkapital oder Reinvermögen entsprechen.
Keens Modellierung (*) beruht auf den Ursprüngen des Fiat-Geldes (fiat money) a la Hyman Minsky: ein komplexes (nicht-lineares) Systemmodell der wirtschaftlichen Instabilität.
In der Makroökonomie geht es um Wirtschaftsaggregate, und ein großer Teil davon betrifft das Verhältnis zwischen einem Aggregat und einem anderen, wie Keen beschreibt.
Der Versuch der neoklassischen Ökonomen, makroökonomische Modelle aus den Grundlagen der Mikroökonomie abzuleiten, was sie als "Mikrofundierung" bezeichnen, ist daher nicht sachgerecht.
Das grundlegende Element eines Systemdynamik-Modells ist die Integralgleichung.
Der Grund für die Verwendung der Integration anstelle der Differenzierung liegt darin, dass systemdynamische Modelle numerisch simuliert werden und die numerische Integration (die Berechnung der Zeitspanne unter einer Kurve) ein viel stabilerer Prozess (*) ist als die numerische Differenzierung (z.B. die Berechnung der Steigung der Kurve).
Am Ende des Buches teilt Prof. Keen seine Erfahrungen im Sinne von "contrarian education in economics" und unterbreitet konkrete Vorschläge, wie Studenten sich heute über «Post Keynesian economics», «Modern Monetary Theory» und «Biophysical Economics» weiterbilden können.
Ein tiefgründig recherchiertes leidenschaftlich verfasstes, herausforderndes Buch.
(*)
Er betont den «strukturellen Realismus», die ausdrückliche Behandlung der Zeit und die Verwendung nichtlinearer Differentialgleichungen («the rate of change») anstelle von linearen algebraischen Gleichungen oder Differenzen.
Denn die Verbraucher kaufen nicht (wie in den meisten früheren Modellen unterstellt) bei den Herstellern von Waren. Sie kaufen von Einzelhändlern, die wiederum von Großhändlern kaufen, die ihre Waren aus Fabriklagern beziehen.