Jón Daníelsson: “The Illusion of Control” – Why Financial Crises Happen, and What We Can (and Can’t) Do About It, Yale University Press, June 2022, UK.
Wir sind gut darin, die Risiken von heute zu managen, aber auf Kosten von Aussichten und Bedrohungen, die in Zukunft liegen, welche wir ignorieren. Das ist die Illusion der Kontrolle.
Die Art und Weise, wie wir heute finanzielle Risiken messen, um wichtige Entscheidungen zu treffen, stützt sich in der Tat erstens auf unvollkommene Modelle und zweitens auf ungenaue Messungen.
Der Schwerpunkt unserer Wahrnehmung liegt laut dem Autor auf der jüngsten Vergangenheit und kurzfristigen Risiken. Der Grund dafür ist einfach. Schliesslich steht dafür eine Fülle von Daten zur Verfügung, und es handelt sich dabei um das am einfachsten zu messende Risiko.
Wir verwenden solche Modelle trotzdem, wohlwissend, dass sie nicht besonders gut funktionieren. Die Gründe dafür liegen im Zusammenspiel zweier komplexer Themen, der Schwierigkeit der Risikomessung und dem menschlichen Erfindungsreichtum, argumentiert Jón Daníelsson, Professor für Finanzen und Direktor des Systemic Risk Centre an der London School of Economics.
Zur Erinnerung:
Alle Modelle sind falsch, aber einige sind nützlich.
Das Problem ist, dass das kurzfristige Risiko nicht so wichtig ist, nicht für Investoren und vor allem nicht für die Finanzbehörden. Für sie ist das systemische Risiko entscheidend.
Das systemische Risiko taucht auf, wenn das Finanzsystem spektakuläre Weise versagt, wie der Autor es zum Ausdruck bringt. Gemeint ist die inhärente Instabilität des Systems.
Hyman Minsky stellte beispielsweise schon vor 40 Jahren fest, dass Stabilität destabilisierend wirkt.
Der Schlüssel dazu sind nämlich die zwei Worte: Finanz-System. Wenn das System zur Ursache und/oder zum Verstärker einer Krise wird, dann wird die Krise als systemisch bezeichnet.
Da das Finanzsystem so grundlegend für die Wirtschaft ist, sind die meisten Wirtschaftskrisen auch Systemkrisen. Die Covid-19-Krise beispielsweise war nicht systemisch.
Wir erleben eine systemische Krise per Definition einmal im Leben (z.B. GFC 2008, Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Gemahlin 1914, Amsterdam Bank 1763 usw.), unterstreicht der Autor. Der Grund dafür ist, dass die schwersten Krisen erst auftreten, wenn wir die letzte vergessen haben.
Krisen ändern das Verhalten. Und systemische Krisen sind recht selten.
Es gibt zwei Gründe, warum das Bankwesen schon immer so stark reguliert war: Erstens sind die Banken eine gute Einnahmequelle für den Staat, so dass die Regierung sie gerne an der kurzen Leine hält. Zweitens sind effiziente und ununterbrochene Bankdienstleistungen für alle Volkswirtschaften unerlässlich.
Bankzusammenbrüche verursachen der Gesellschaft Kosten, die weit über die privaten Kosten der Eigentümer, Angestellten und Geschäftspartner der Banken hinausgehen.
Was also tun? Die Antwort ist Vielfalt, schreibt Danielsson.
Es gibt immer einen Kompromiss zwischen Sicherheit und Risiko. Alle einfachen Lösungen zielen auf das sichtbarste exogene Risiko ab und ignorieren die verborgenen dunklen Kräfte hinter Extrem-Risiken und Krisen.
Die eigentliche Bedrohung geht von endogenen Risiken aus.
Es wäre viel besser, die (einfachen und für alle sichtbaren) Auslöser zu ignorieren und sich auf den grundlegenden (unklaren) Treiber von Krisen und schlechter Performance, das endogene Risiko, zu konzentrieren.
Der Feind von Stabilität und guter Anlageperformance ist Einheitlichkeit, hält der Autor ferner fest:
Wenn ich auf einen Schock mit einem Kauf reagiere und meine Freundin Ann mit einem Verkauf, heben sich unsere Reaktionen gegenseitig auf, zusammen erzeugen wir antizyklisches Zufallsrauschen.
Wenn wir stattdessen beide kaufen oder verkaufen, verstärken wir prozyklisch die Preisbewegungen. Wir sind prozyklisch, wenn wir die Welt auf die gleiche Weise sehen und auf sie reagieren, und antizyklisch, wenn wir das nicht tun.
Je ähnlicher Finanzinstitute (Banken) sind, desto höher wird das systemische Risiko, da sie dieselben Schocks verstärken und dieselben Blasen («bubbles») aufblasen.
Nicht viele sind anderer Meinung. Der Zusammenhang zwischen Diversität und systemischem Risiko ist nämlich gut verstanden. Aber das ist Theorie. Die Praxis lässt viel zu wünschen übrig. Denn es ist ein offenes Geheimnis, dass die Anreize des Finanzsystems die Bankiers und die Regulierungsbehörde «verführen», tendenziell auf Einheitlichkeit zu drängen.
Auch die Finanzvorschriften begünstigen die Uniformität. Das Ergebnis: einheitliche (gleichmässige) Regeln, die alle Banken, ob groß oder klein, gleich behandeln. Da wir komplexe Regeln für die Größten benötigen, begünstigen die Kosten für deren Einhaltung die Großen.
Wenn zum Beispiel Wettbewerbskräfte Fusionen vorantreiben, beklagen die Finanzbehörden den Rückgang der Zahl der Banken, fördern dies aber in der Praxis und nutzen Fusionen gerne zur Bewältigung von Krisen und bankrotten Banken.
Die Einheit (Gleichförmigkeit) wird zudem auch von Banken-basierten Finanzsysteme begünstigt:
In den USA wird nur etwa ein Drittel der Kredite an Unternehmen von Banken vergeben, der Rest erfolgt über die Anleihemärkte.
Auf dieser Seite des Atlantiks kommen etwa 90% der Kredite von den Banken. In Deutschland 92%, in Großbritannien über 80% und in Spanien 96%.
Bankbasierte Finanzsysteme stellen innovativen und risikoreichen Unternehmen («start-ups») weniger Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung, die Finanzierungskosten sind hoch und es ist sehr schwierig, die Banken zu regulieren, ohne erhebliche wirtschaftliche Kosten zu verursachen.
Der beste Weg, das Finanzsystem den Willen des Einzelnen anzupassen, besteht daher darin, Vielfalt sich zu eigen zu machen. Wir brauchen eine neue Kultur, wie sie für die Luftfahrtindustrie so gut funktioniert.
Je unterschiedlicher die Institutionen des Finanzsystems voneinander werden und je heterogener die Regulierungen sind, desto stabiler und diversifizierter wird das System sein.
Auch wenn alle Banken umsichtig sind, ist das Finanz-System nicht sicher. Wir brauchen sozusagen Wettbewerb zwischen den Regulierungsbehörden.
Ein kognitiver Fehler ist es, finanzielle Stabilität als Ziel an sich zu betrachten. Das ist sie nicht. Stabilität ist nur ein Instrument. Das Ziel ist ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit nicht zu vielen kostspieligen Krisen. Das Finanzsystem ist ein Instrument, und Finanzstabilität ist nur insofern wichtig, als sie uns zu unserem Ziel führt.
Vorschriften (regulation) sind die Regeln, Aufsicht (supervision) deren Durchsetzung. Ohne eine effiziente Durchsetzung werden die Vorschriften bedeutungslos.
Eine wichtige und informative Lektüre mit profunden Einsichten für Investoren und vor allem Regulierungsbehörden. Und denken Sie daran:
Das systemische Risiko ist die «Krankheit der Wohlhabenden».