Nach dem stärksten Preisdruck auf beiden Seiten des Atlantiks, ausgelöst durch einen heftigen Angebotsschock infolge von über-strapazierten Lieferketten, fällt es schwer, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass die Inflation bald unter dem Zielwert von 2% der Fed liegen könnte.
Genau darauf deutet ein aktueller Bericht im Reuters hin.
Sinkende kurzfristige durchschnittliche Inflationskennzahlen, einbrechende Rohstoffpreise, ein sich abschwächender Arbeitsmarkt und ein nachlassender Lohndruck weisen alle in eine Richtung: Disinflation.
Längst hat sich das künstlich Angst-schürende Narrativ die „letzte Meile“ (auf dem Rückzug der Inflation auf 2%) als ein Ablenkungsmanöver entpuppt.
Das größte Risiko für die Märkte und die politischen Entscheidungsträger besteht nicht in einer „länger anhaltenden“ Inflation, sondern darin, dass der Preisdruck praktisch verschwindet.
Wie der amerikanische Beschäftigungsbericht für August zeigt, blieb der Anstieg der Beschäftigtenzahlen hinter den Erwartungen zurück.
Und die Rendite-Kurve (“yield-curve”) der 2- bis 10-jährigen US-Staatsanleihen scheint sich nach mehr als 540 Tagen (der längsten Zeitspanne in der Geschichte) endlich zu „ent-invertieren“.
Auslöser für diese wichtige Entwicklung war die Aussage des Vorsitzenden der US-Notenbank (Fed), Powell, in seinen Kommentaren zum Symposium in Jackson Hole, dass „die Zeit gekommen ist“, den Kurs der Geldpolitik zu lockern, sprich: Zinssenkung.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt tendierten die Zinsterminkontrakt-Märkte dazu, dass die Fed die Zinsen noch in diesem Monat um 50 Basispunkte und bis Ende nächsten Jahres um fast 250 Basispunkte senken würde - ein Zeichen für die disinflationären Kräfte, die die Händler ungeniert einpreisen.
Seit der frühere Fed-Vorsitzende Alan Greenspan 1987 die Leitung der US-Notenbank übernahm, hat die Fed viermal einen Lockerungszyklus von 250 Basispunkten oder mehr durchgeführt. Jeder dieser Zyklen war mit einem raschen Rückgang der Inflation verbunden, drei davon endeten mit einer deutlichen Unterschreitung des 2%-Ziels der Fed.
Weltweit hat sich der Disinflationsdruck inzwischen verstärkt, insbesondere in der Eurozone und einigen wichtigen Schwellenländern wie Indien und Indonesien. Und China kämpft gegen eine regelrechte Deflation.
Die Verbraucherinflation in China beschleunigte sich im August auf das schnellste Tempo seit einem halben Jahr, aber der Anstieg war eher auf höhere Lebensmittelkosten aufgrund von Wetterunterbrechungen zurückzuführen als auf eine Erholung der Inlandsnachfrage, da sich die Deflation der Erzeugerpreise verschärfte.
Die jährliche Inflationsrate lag in der Schweiz im August bei 1,1 % und damit in der Nähe der Mitte der von der SNB definierten Preisstabilität von 0%-2%. Dies dürfte darauf hindeuten, dass es für die SNB wenig Grund gibt, ihren geldpolitischen Kurs anzupassen.
Doch die auf das Jahr hochgerechnete Inflation über drei Monate wird von EFG auf minus 0,2 % geschätzt. Daraus ergibt sich ohne Zweifel ein ganz anderes Bild des Inflationsdrucks.
Zudem lag die jährliche Inflationsrate ohne Mieten im August bei 0,4 %, ein niedriger Wert, der auf die Notwendigkeit einer Zinssenkung schließen lässt.
Wir sollten uns auch daran erinnern, wie sehr die Fed - und andere Zentralbanken der Industrieländer - in den zehn Jahren nach der globalen Finanzkrise darum gerungen haben, die Inflation wieder auf 2% (hinauf) zu bringen.
Viele der Trends, von denen man annahm, dass sie zu ungewöhnlich niedrigen Zinsen führten - wie z.B. die demographische Alterung - haben sich scheinbar nicht geändert.
Dahinter standen v.a. zwei Phänomene: (I) Der langanhaltende Abwärtstrend (secular) seit den 1980er Jahren und (II) Der zyklische Rückgang (cyclical) im Sog der Finanzkrise (GFC).
Der zyklische Rückgang führte wiederum in den vergangenen Jahren zu extrem niedrigen Zinsen, wobei nicht nur die Geldpolitik, sondern auch die erhöhte Nachfrage nach sicheren Anlagen dazu beitrugen.
Als Fazit lässt sich inzwischen festhalten, dass die Zinsen im Allgemeinen wirtschaftliche und finanzielle Verhältnisse und die Antwort der Geldpolitik darauf widerspiegeln.
Während die EZB sich ausschliesslich dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet fühlt, ist die Fed für die Beschäftigung und Preisstabilität in gleicherweise verantwortlich.
Ein Anstieg der Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt, z. B. von 4 % auf 5 % schadet dem Wohlbefinden des Menschen mindestens fünfmal mehr als ein Anstieg der Inflation um einen Prozentpunkt, wie Prof. Danny Blanchflower unter Beweis gestellt hat.
Wenn die Inflation zurückgeht und gleichzeitig die Arbeitslosenquote steigt, ist das i.d.R. ein Zeichen dafür, dass die Zinsen zu hoch sind.