Ein wesentliches Merkmal der neuen Normalisierung der Geldpolitik ist, dass der neutrale Zinssatz, d. h. das Niveau der Fed Funds Rate, das mit einem Wirtschaftswachstum in der Nähe der Potenzialrate, Vollbeschäftigung und stabiler Inflation vereinbar ist, ungewiss ist.
«Wir können den neutralen Zinssatz nicht direkt beobachten, sondern nur schätzen.»
Das ist die Standard-Erklärung, die die Ökonomen liefern, wenn sie nach dem neutralen Gleichgewichtszinssatz gefragt werden.
Der natürliche Zinssatz ist ein von Wirtschaftswissenschaftlern verwendetes Konzept zur Beschreibung der Höhe der Realzinsen, die die Inflation konstant halten würden. Er wurde erstmals 1898 von dem schwedischen Ökonomen Knut Wicksell in seinem Buch "Interest and Prices" beschrieben.
Das Niveau des neutralen Zinses ist über die Zeit variable und kann kaum je exakt bestimmt werden.
In einem Umfeld mit strukturellen Änderungen ist aber die Einschätzung des neutralen Zinses besonders schwierig.
Dabei geht es darum, weder Wachstumschancen abzuwürgen noch Inflationsrisiken einzugehen.
Neel Kashkari notiert in einem aktuellen Eintrag in seinem Blog, dass der nominale neutrale Leitzins seiner Schätzung nach bei 2,0% liegt.
Der Präsident der Minneapolis Fed deutet darauf hin, dass die Spanne der Schätzungen der Teilnehmer des geldpolitischen Ausschusses (FOMC) der Fed im jüngsten SEP von 2,0 % bis 3,0 % reicht.
Es ist aber nicht der nominale Leitzins, der die Wirtschaftstätigkeit antreibt.
Die meisten Wirtschaftswissenschaftler argumentieren, dass nicht die nominalen Zinssätze, sondern die realen Zinssätze die Wirtschaftstätigkeit bestimmen: die nominalen Zinssätze abzüglich der Inflation.
Zur Erinnerung: Der FOMC hat den Leitzins in den letzten beiden Sitzungen um 75 Basispunkte (auf 75 bis 100 Basispunkte) angehoben. Und die Inflation ist rasch gestiegen.
Kashkari ist der Meinung, dass eher die langfristigen realen Zinssätze - z. B. für 5, 10 oder mehr Jahre - als die Tagesgeldzinssätze die Kreditnachfrage der Unternehmen und Verbraucher beeinflussen.
Da der neutrale nominale Geldzinssatz sich nicht direkt beobachten lässt, gilt dies auch für den neutralen langfristigen Realzins.
Wir können nur versuchen, ihn zu schätzen.
Ein Ansatz besteht laut Kashkari darin, die realen Zinssätze in der Zukunft zu betrachten, bei denen die Auswirkungen von Schocks bereits vergangen sind.
Der 5-Jahres-Realzins 5 Jahre in der Zukunft ist ein solcher Näherungswert ist. Wie wir der Abbildung abnehmen können, ist er in den letzten 20 Jahren gesunken.
Die Notenbanken sind daher am Zug, zu erklären, wie nahe dem neutralen Zinssatz wir uns befinden. Da es um die künftige Geldpolitik geht, ist «forward guidance» wieder besonders wichtig.
Angesichts der erhöhten Unsicherheit im Umfeld der globalen Wirtschaft durch die Pandemie, des russischen Einmarsches in die Ukraine und der strikten Abriegelung in vielen Städten, die die Regierung in Peking verhängt hat, ist heute Rezession erneut das Schlagwort.
Und die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt bekommt rasch die Folgen der «Null-Covid»-Politik zu spüren, während der Staat verspricht, politische Anpassungen zu verstärken, um Konjunkturimpulse bereitzustellen.
Ob sich Ölschocks auf die Kerninflation auswirken oder nicht, hängt vom makroökonomischen Umfeld ab. Die globale Flaute spielt also eine entscheidende Rolle.
Vor der Pandemie führte die Integration vieler großer Schwellenländer in globale Wertschöpfungsketten zu einem beispiellosen Anstieg der globalen Produktionskapazitäten, was die Inflation drückte.
Heute übersteigt die globale Nachfrage das globale Angebot, was die Preise in Ländern auf der ganzen Welt unter anhaltenden Aufwärtsdruck setzt, beschrieb Isabel Schnabel, Mitglied des Direktoriums der EZB am Mittwoch im Rahmen eines Vortrags in Wien.
Das bedeutet, dass die globale Konjunkturschwäche für die zugrunde liegende Inflation im Inland von Bedeutung ist und dass die Globalisierung die Sensibilität der Inflation für die inländische Konjunkturschwäche verringert haben könnte.
Es wird vor diesem Hintergrund erwartet, dass die EZB die Zinssätze im Juli, September und zum Jahreswechsel anheben dürfte, selbst wenn schwächer als erwartet ausgefallene Daten den Zeitplan ändern sollten.
Mit dem Anstieg der Zinsen von minus 0,50% (deposit facility) auf 0,0% bliebe der reale Zinssatz in der Eurozone immer noch negativ. Das bedeutet jedoch nicht, dass die EZB daher eine besonders restriktive Haltung einnehmen würde.
Die Märkte sind offensichtlich besorgt, dass die restriktiven Bedingungen die Wirtschaft zu sehr abkühlen könnten. Auch Powell scheint sich dieser Risiken bewusst zu sein.
Die Normalisierung der Geldpolitik in einem anormalen Umfeld der globalen Wirtschaft ist alles andere als einfach. Don’t fight the Fed.