Die EZB will nach eigenen Angaben die Zinserhöhungen fortsetzen. Begründung: Die Inflation sei noch lange nicht besiegt.
Der Beschluss der EZB-Führung am 15. Juni, den Leitzins für Einlagen um einen Viertelpunkt auf 3,5% anzuheben, kommt allerdings zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Rezession.
Trotz einer stagnierenden Wirtschaft zeigt sich die EZB-Führung entschlossen, die Zinsen weiter zu erhöhen und damit einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen.
Isabel Schnabel hat neulich in einem Vortrag mit dem Hinweis auf den «vollgefüllten» Arbeitsmarkt («tight labor market») argumentiert, dass die Inflation in den nächsten drei Jahren wahrscheinlich nicht auf das Zielniveau zurückkehren werde, wenn das Verhältnis zwischen offenen Stellen und Arbeitslosen nicht wieder unter das Niveau vor dem COVID falle.
Mit dem Abklingen des Energieschocks und der Normalisierung der Versorgungsketten seien die Inlandsnachfrage und insbesondere das Lohnwachstum zum wichtigsten Faktor der jüngsten Inflationsentwicklung geworden, so die EZB-Direktorin.
Bemerkenswert ist die Verlautbarung, dass im heutigen Umfeld der Wirtschaft Hysterese-Effekte ein Aufwärtsrisiko darstellen.
Das heisst, dass vergangene Schocks, selbst wenn sie abklingen, und ihre weiterreichenden Auswirkungen anhaltende Folgen für die künftige Produktionskapazität der Wirtschaft entfalten können.
Derartige Hysterese-Effekte können laut der deutschen Wirtschaftsprofessorin den durch vorübergehende Angebotsschocks verursachten Inflationsanstieg verstärken und verlängern.
Doch die Fed San Francisco vertritt eine andere Meinung.
Das Economic Research Team schätzt in einer neulich vorgelegten Analyse, dass Unterbrechungen der Lieferkette im Durchschnitt etwa 60% des Anstiegs der US-Inflation in den letzten zwei Jahren ausmachten.
Seit Mitte 2022 deuten die Indikatoren jedoch darauf hin, dass der erhöhte Druck durch die Unterbrechungen der Lieferkette allmählich nachlässt, was zur Verlangsamung der Inflation beigetragen hat, so die Fed-Ökonomen.
Das Fazit der Fed-Studie:
Ein Schock um eine Standardabweichung in Bezug auf den Global Supply Chain Pressure Index (GSCPI) führt in der Spitze zu einem Anstieg der PCE-Inflation um etwa 0,5%. Die Auswirkungen sind relativ kurzlebig und verschwinden statistisch gesehen etwa ein Jahr nach dem Schock.
Was heisst aber Hysterese?
Der Begriff Hysterese kommt aus der klassischen Physik, bevor er unter Ökonomen an Popularität gewonnen hat, um die Situation von stark gebeutelten Arbeitnehmern in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit zu beschreiben.
Seit den 1940er Jahren wurde darauf von Paul Samuelson, Edmund Phelps und anderen Ökonomen Bezug genommen. In den 1980er Jahren fand der Begriff eine häufigere Verwendung, u.a. von Olivier Blanchard und Larry Summers.
Im Kontext der Makroökonomie bezieht sich der Hysterese-Effekt auf ein Phänomen, bei dem vergangene Schocks anhaltende und dauerhafte Auswirkungen auf die Wirtschaft haben, selbst nachdem die ursprüngliche Ursache des Schocks beseitigt wurde.
Der Effekt deutet darauf hin, dass vorübergehende Veränderungen in der Wirtschaft zu langanhaltenden oder dauerhaften Verschiebungen des Gesamtniveaus von Produktion, Beschäftigung und potenzieller Wachstumsrate führen können.
Wie kann aber Hysterese bekämpft werden?
Um dem Hysterese-Effekt makroökonomisch entgegenzuwirken, ist eine Kombination aus geld-, fiskal- und strukturpolitischen Maßnahmen erforderlich, die darauf abzielen, die Wirtschaftstätigkeit zu fördern, die Gesamtnachfrage anzukurbeln und die Wiedereingliederung arbeitsloser Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt zu erleichtern.
Mögliche Strategien zur Bekämpfung des Hysterese-Effekts sehen gemäss dem Lehrbuch wie folgt aus:
- expansive Geldpolitik:
- expansive Finanzpolitik:
- aktive Arbeitsmarktpolitik:
- Infrastrukturinvestitionen:
- unterstützende Industrie- und Innovationspolitik:
Aber definitiv keine Zinserhöhungen.
Fazit:
Die Euro Zone hat in der Tat ein giftiges Austeritätsproblem, die Folge der gefährlichen Besessenheit von der Staatsverschuldung.
Wie die Financial Times (FT) aus London berichtet, ist Europa gegenüber Amerika inzwischen zurückgefallen, und der Rückstand wird immer größer.
Im Jahr 2008 war die Wirtschaft der EU etwas größer als die der USA: 16,2 Billion $ gegenüber 14,7 Billion $.
Bis 2022 war die US-Wirtschaft auf 25 Billion $ angewachsen, während die EU und das Vereinigte Königreich zusammen nur 19,8 Billion $ erreicht hatten.
Amerikas Wirtschaft ist jetzt fast ein Drittel größer: sie ist mehr als 50% größer als die EU ohne das Vereinigte Königreich. Die Gesamtzahlen sind schockierend. Dahinter verbirgt sich das Bild eines Europas, das Sektor für Sektor ins Hintertreffen geraten ist.
Die britische Zeitung vertritt zugleich die Ansicht, dass Deutschlands Wirtschaftsmodell aktualisiert werden muss.
Haushalte, Unternehmen und der Staat sind alle auf das Sparen ausgerichtet. Und das Ausland ist der einzige Schuldner. Doch die Strategie der Export-Überschüsse (gestützt von Lohnmoderation) ist längst gescheitert. Endgültig.
Ob die Leitzinserhöhungen und Einschnitte in Staatsausgaben inmitten einer stockenden Wirtschaft eine gute Idee sind, erscheint daher mehr als fraglich.
Monika Stemmer schreibt dazu in ihrem neulich veröffentlichten Buch («Staat Macht Geld») folgendes:
Die Eurozone, als eine der reichsten Gegenden der Welt, hat das Geldschöpfungsprivileg ihrer Staaten kastriert und ist dadurch viel ärmer, handlungsunfähiger und undemokratischer, als sie sein müsste.
Das Motto "no pain, no gain» (ohne Fleiß kein Preis) inspiriert offensichtlich auch heute noch viele EZB-Politiker, vor allem wenn es darum geht, «monetary austerity» zu rechtfertigen, die die Ärmsten am härtesten trifft.
Was die Wirtschaft betrifft, ist dies aber ein Irrglaube, der nicht auf Evidenz, sondern auf einem falschen, aber sehr einflussreichen Schema der neoliberalen Wirtschaftskonzeption beruht. Es ist eine politische Entscheidung, nicht ökonomisch.