Die Löhne sind laut einer aktuellen Datenerhebung (FactSet) die größte Sorge der amerikanischen Unternehmen.
Die nachfolgende Abbildung zeigt die Anzahl der S&P 500-Unternehmen, die in der Gewinnbenachrichtigung für das vierte Quartal 2021 die Aspekte nennen, die Grund zur Sorge bereiten.
An der zweiten Stelle kommen die Auswirkungen von COVID19. Die dritte Stelle belegt die Unterbrechungen der Lieferkette («supply-chain»), die vierte den Transport und die fünfte die Rohstoffe.
Die Antworten scheinen reflexartig herzukommen. Was ist aber mit der zunehmenden Einkommensungleichheit und ihren Auswirkungen auf den Konsum und Investitionen?
Bemerkenswert ist, dass öffentliche Unternehmen in den USA in ihren Jahresberichten Hunderte von Angaben machen. Erstaunlicherweise gehört aber die Frage, wie viel sie ihren Mitarbeitern zahlen, nicht dazu.
Heute steigen die Löhne in den USA nach Jahrzehnten der Stagnation.
Doch allem Anschein nach ist die Einkommensungleichheit so groß wie nie zuvor und nimmt weiter zu, und zig Millionen Vollzeitbeschäftigte verdienen immer noch kein existenzsicherndes Einkommen.
Seit 1979 ist das Bruttoinlandsprodukt inflationsbereinigt um 2,5% pro Jahr gewachsen, während die Löhne nur um 0,2% pro Jahr gestiegen sind, wie Bloomberg hervorhebt.
Wir sehen in der zweiten Abbildung, wie die Gewinnmargen der Unternehmen in die Höhe schnellen. Aber es gibt keine Anzeichen für eine Lohn-Preis-Spirale.
Es macht also keinen Sinn, blinden Alarm zu schlagen. Fakten zeigen, dass der wöchentliche Realverdienst für Vollzeitbeschäftigte flach wie ein Pfannkuchen ist.
Es gibt dazu mehr Fragen als Antworten.
Wie viele Arbeitnehmer verdienen ungefähr weniger als einen existenzsichernden Lohn, und wie viel weniger?
Inwieweit tragen unzureichende Löhne zur Verlangsamung des Wirtschaftswachstums bei?
Was oder Wer ist für das stockende Lohnwachstum verantwortlich?
Fest steht, dass bei der Lohnentwicklung auf beiden Seiten des Atlantiks heute keine Gefahr von inflationären Zweitrundeneffekten besteht.
Wie die «goldene Lohnregel» (= Arbeitsproduktivität + Zielinflationsrate der Zentralbank) aussieht, erklärt Philipp Lane, EZB-Chefökonom in einem aktuellen Interview kurz und bündig:
Wenn die Inflation im Euroraum bei etwa 2% liegt und ein typischer Anstieg der Arbeitsproduktivität von etwa 1% berücksichtigt wird, dann sollten die Löhne im Euroraum im Durchschnitt um 3 % pro Jahr steigen, um mit dem 2%-Ziel vereinbar zu sein.
Im Moment ist in diesem Gebiet kein Lohnanstieg zu verzeichnen, so Lane.
Es ist also schwer zu verstehen, warum viele Analysten und/oder Ökonomen glauben, dass die hohe Inflation anhalten wird.
Eine Möglichkeit ist, dass die Falken befürchten, dass die "berühmt-berüchtigte Lohn-Preis-Spirale" einsetzt. Aber die Daten legen nahe, dass so etwas nicht passieren kann.
Das ganze Geschehen deutet Schlimmstenfalls auf ein erhöhtes Preisniveau hin, nicht auf eine erhöhte Inflationsrate, erklärt David Andolfatto auf Twitter.
Fazit:
Im Jahr 2022 wird die Inflation weiterhin eher durch begrenzte Angebotskapazitäten als durch übermäßigen Nachfragedruck angetrieben werden, wie Elga Bartsch, BlackRock in einer jüngsten Analyse bekräftigt.
Das Hauptrisiko besteht darin, dass die Zentralbanken zu fest auf die Bremse treten, wenn die Engpässe in der Versorgungskette fortbestehen und sie der Meinung sind, dass eine höhere Inflation die Inflationserwartungen beeinflussen könnte.